Meine Rede an der 1. Maifeier in Baden
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Badenerinnen und Badener, liebe Menschen
Kürzlich war ich mit einer Freundin Kaffee trinken. Es ging ziemlich lange, bis wir bedient wurden. Das machte uns nichts aus, wir hatten uns viel zu erzählen. Das Café war ziemlich voll, fast alle Tische besetzt. Als die Bedienung – sie machte einen ziemlich gehetzten Eindruck – nach zwanzig Minuten endlich an unseren Tisch kam, sagte sie ausser Atem: Entschuldigung, ich bin heute allein hier, wir haben zu wenig Personal.
Zu wenig Personal.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen. In der Schweiz fehlen Arbeitskräfte. Und sie fehlen in allen Bereichen, in allen Branchen.
Deshalb heissen die Schlagzeilen von Blick, AZ und 20 Minuten zurzeit:
Die Schweiz braucht bis 2031 über 70'000 neue Lehrpersonen.
Pflegenotstand! 14’800 Pflegestellen unbesetzt
Bis 2030 fehlen 270'000 Arbeitskräfte!
Die Schweiz ist mit dem Problem nicht allein. Ganz Europa und fast alle Industrieländer haben mit dem Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Der Grund dafür: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Viele sogenannte «Babyboomer» – also all jene Menschen, die aus dem Geburtenboom zwischen 1945 und den frühen 1960er-Jahren stammen – werden in den nächsten Jahren in Pension gehen oder sind kürzlich bereits pensioniert worden. Für sie rücken geburtenschwächere Jahrgänge nach, die die entstehenden Lücken nicht füllen können. Gemäss Prognosen wird uns dieser Trend noch lange begleiten und erst etwa 2030 seinen Höhepunkt erreichen.
Der Aargauische Gewerbeverband hat seine Mitglieder kürzlich nach ihren Sorgen gefragt. Das akuteste Problem der Aargauer KMU ist laut Umfrage der Fachkräftemangel. Über die Hälfte der befragten KMU nennen ihn als eine ihrer grössten Sorgen. Insbesondere in handwerklichen Berufen, in der Gastronomie und im Gesundheitswesen fehlen die Leute.
Wenn die Medien über den Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel schreiben, wird meistens die Optik der Unternehmen eingenommen. Die Arbeitgebenden jammern darüber, dass sie nicht genügend Leute finden.
Aber: Was bedeutet der Arbeitskräftemangel eigentlich für die Angestellten? Ist das gut, oder schlecht?
Da gibt es natürlich positive Effekte: Noch nie waren so viele Stellen ausgeschrieben. Im letzten November waren nur gerade 161'000 Menschen auf Stellensuche, im Jahr 2022 lag die Arbeitslosenquote durchschnittlich bei 2.2%, diesen März sogar bei 2% – historisch tief. Vollbeschäftigung! Das ist doch das, wovon wir immer geträumt haben! Nie war es so einfach, eine Stelle zu finden!
Der Mangel an Personal bedeutet für Angestellte aber auch, dass mehr Arbeit auf weniger Schultern verteilt werden muss. Das führt zu hohem Druck und prekären Arbeitsbedingungen. Zu kurze Pausen, Überstunden – Überarbeitung bis hin zum Burnout sind die traurige Folge. Ganz besonders stark betroffen vom Personalmangel sind unsere Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitswesen. Hier sind 12-Stunden-Schichten schon fast die Regel. Ein kleiner Lichtblick war die Annahme der Pflegeinitiative. Diese soll für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen sorgen. Aber ihre Umsetzung dauert zu lange. Die Kantone müssen jetzt Vorbereitungsarbeiten für die zweite Etappe aufnehmen. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn die Kantone – wie der Aargau – einfach warten, bis der Bund sagt, was zu tun ist.
In den Medien überbieten sich die Arbeitgebenden mit Vorschlägen, was man gegen den Arbeitskräftemangel tun sollte. Vor einigen Tagen veröffentlichte der Schweizerische Arbeitgeberverband seine Forderungen in einem 8-Punkte-Plan. Er sieht den Handlungsbedarf – wie könnte es anders sein – vor allem bei den Angestellten: Sie sollen mehr, länger und flexibler arbeiten. Längere Arbeitszeiten und eine Erhöhung des Rentenalters sollen Abhilfe schaffen. Dies, obschon die Angestellten in der Schweiz im europäischen Vergleich am meisten Stunden pro Woche arbeiten.
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Arbeitgeberverband schlägt vor, dass wir alle ein paar Stunden mehr pro Woche arbeiten und zwar bis wir 70 sind, dann sei das Problem gelöst. – Ich sage: Nein, stopp, das kann es doch nicht sein!
Die Migros setzt noch auf eine andere Strategie: Sie lagert die Personalrekrutierung gleich an ihre Angestellten aus. Die eigenen Mitarbeitenden sollen in ihrem Bekanntenkreis Leute dazu motivieren, bei der Migros zu arbeiten. Dazu hat sie ein etwas fragwürdiges Belohnungssystem eingeführt: Wer es schafft, jemanden erfolgreich anzuheuern, erhält eine Geldprämie. Ein FDP-Grossrat aus dem Bezirk Baden setzt auf das gleiche Prinzip und verteilt 1'000.– bei einem erfolgreichen Arbeitsvertragsabschluss. Wäre es nicht sinnvoller, die Leute mit besonders guten Arbeitsbedingungen ins Boot zu holen? Wie wäre es mit mehr Ferien, besseren Löhnen und flexiblen Arbeitszeiten, um Beruf und Familie vereinbaren zu können?
Ein regelrechter Hilfeschrei setzte das Kantonsspital Aarau im letzten November ab: Es schaltete Stelleninserate in Rom. Italienische Pflegefachleute sollen in unseren Aargauer Spitälern arbeiten und das Problem lösen. Die Rekrutierung von Personal im Ausland hat auch bei anderen Unternehmen System, insbesondere in grenznahen Gebieten. Das hat aber zur Folge, dass dieses Personal dann einfach an anderen Orten fehlt. Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie unsolidarisch ist es denn, Pflegefachpersonal in Polen, Deutschland und Italien zu rekrutieren, wenn es in diesen Ländern ebenfalls viel zu wenig Pflegefachleute hat? Wir vergrössern damit dann einfach den Pflegenotstand in anderen Ländern. Das darf nicht unsere Lösung sein!
All diesen Vorschlägen der Arbeitgeberschaft ist gemeinsam, dass sie das Problem nicht an der Wurzel packen. Wenn wir ausländische Fachleute anwerben, hilft das zwar hier, die Leute fehlen dann aber in ihren Herkunftsländern. Und wenn die Firmen mit besonders guten Anstellungsbedingungen und höheren Salären um Mitarbeitende buhlen, ist das selbstverständlich sehr zu begrüssen (wobei: gute Anstellungsbedingungen und faire Löhne sollten eine Selbstverständlichkeit sein). Aber eigentlich werben die Firmen sich mit diesen Massnahmen nur gegenseitig die Angestellten und Lernenden ab, der Pool an Fachkräften wird deswegen nicht grösser.
Was wären denn echte Lösungen gegen den Fachkräftemangel?
Statt unsolidarisch Fachkräfte aus dem Ausland abzuziehen, sollten wir primär alle inländischen Potenziale nutzen.
Denn wenn das Bundesamt für Statistik die tiefe Arbeitslosenquote mitteilt, ist das nur die halbe Wahrheit. Es gibt nämlich noch viele andere Menschen, die beschäftigt werden könnten, die aber gar nicht in der Arbeitslosenstatistik erfasst sind. Wir haben immer noch ein grosses ungenutztes Potenzial an zusätzlichen Arbeitskräften. Es gibt etwa 668'000 Personen, die momentan nicht erwerbstätig oder unterbeschäftigt sind und bereit wären, wieder ins Erwerbsleben einzusteigen oder ihr Pensum aufzustocken. Fast 60% davon sind Frauen.
Ja, wir müssen das inländische Potenzial nutzen:
Das fängt an bei der Ausbildung. In der Schweiz hat immer noch etwa jeder zehnte, jede zehnte junge 25-Jährige keine abgeschlossene Berufslehre oder Matur. Eine von zehn Personen! Das ist erschreckend. Dabei gibt es einen grossen Unterschied zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Ihr wisst es: Wer keinen Abschluss hat, droht beruflich und gesellschaftlich abgehängt zu werden. Fällt aus dem Arbeitsmarkt und landet in der Sozialhilfe. Hier müssen wir ansetzen! Diese Jugendlichen brauchen eine Perspektive. Unser Bildungssystem muss Strategien entwickeln, damit möglichst alle Jugendlichen einen Abschluss vorweisen können. Und die Unternehmen müssen zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen und Lernende einstellen.
Zweitens: Wir müssen auf Weiterbildung setzen. Mit der Digitalisierung und dem dringend nötigen ökologischen Umbau kommt es zu einer Veränderung der Berufsbilder. Neue Berufe entstehen, alte verschwinden. Für die Montage von Photovoltaikanlagen braucht es in den nächsten Jahren etwa 25'000 Arbeitskräfte. Der Beruf des Kaminfegers hingegen wird in den nächsten Jahren immer weniger brauchen, er wird vielleicht sogar bald ganz verschwinden. Es darf aber nicht sein, dass Menschen, deren Beruf ausstirbt, aus dem Arbeitsmarkt fallen und abgehängt werden. Auf diese Veränderungen müssen wir rechtzeitig reagieren. Da sind Unternehmen, Verbände und Politik gleichermassen gefragt. Die Verbände müssen neue Berufslehren entwickeln. Die Politik muss Weiterbildungen und Umschulungen für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger ermöglichen und finanzieren und so Unternehmen und Arbeitnehmende unterstützen.
Drittens: Wir brauchen endlich einen inklusiven Arbeitsmarkt. Die Firmen sollten sich für Inklusion öffnen und auch Menschen mit Behinderungen anstellen. Menschen mit Beeinträchtigungen, egal ob körperlich, geistig oder psychisch, sind im Schnitt höher qualifiziert als andere Arbeitslose. Sie sollen vermehrt in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. Die Politik muss Unternehmen dabei unterstützen, inklusive Arbeitsplätze zu schaffen. Aber die Politik soll grössere Unternehmen auch dazu verpflichten, Menschen mit Behinderungen anzustellen – wie das in Deutschland bereits der Fall ist. So sorgen wir für einen inklusiveren Arbeitsmarkt und letztlich für eine inklusive Gesellschaft.
Viertens: Wir müssen endlich für echte Gleichstellung sorgen! Das bedeutet längst nicht nur Lohngleichheit. Nach wie vor arbeiten viele Frauen, nachdem sie ein Kind geboren haben, nur noch zu einem kleinen Pensum oder hören ganz auf. Wieso? Ihr kennt die Antwort, teilweise aus eigener Erfahrung. Kinderbetreuungsplätze sind – je nachdem, wo man wohnt – immer noch Mangelware. Und: Kinderbetreuung ist teuer, sehr teuer. Wer zwei Vorschulkinder hat und diese vier Tage die Woche fremdbetreuen lässt, zahlt schnell einmal monatlich einen vierstelligen Betrag. Oft frisst die Kinderbetreuung den jungen Eltern 15, 20% ihres Einkommens weg. Die SP hat deshalb letztes Jahr die Kita-Initiative lanciert: Alle Kinder bis Ende der Primarschule sollen ein Anrecht auf einen bezahlbaren Betreuungsplatz haben. Damit fördern wir die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ermöglichen es, dass beide Elternteile im Erwerbsleben bleiben.
Für Gleichstellung braucht es zudem mehr Teilzeitstellen für Frauen und Männer. Hier sind die Unternehmen gefragt, auf die Bedürfnisse der Eltern einzugehen. Denn wenn beide Elternteile je zu 80% arbeiten, wird das Potenzial von beiden optimal genutzt und erst noch für die nötige «Work-Life-Balance» gesorgt.
Fünftens: Es braucht bessere Anstellungsbedingungen und gute Löhne! Um den Arbeitskräftemangel zu dämpfen, sollten die Unternehmen auf attraktive Anstellungsbedingungen setzen. Konkret heisst das: mehr Ferientage, bessere Sozialleistungen, die Möglichkeit, regelmässig im Homeoffice zu arbeiten, flexiblere Arbeitszeiten.
Und vor allem auch: Es braucht höhere Löhne! Wir haben momentan eine historisch hohe Teuerung. Das schwächt die Kaufkraft der Menschen enorm. Ihr spürt es bestimmt auch im Portemonnaie: In den letzten Monaten ist alles teurer geworden: Von den Lebensmitteln im Einkaufkorb, der Stromrechnung bis zum Cappuccino im Restaurant. Dazu kommen die hohen Mieten und die ständig steigenden Krankenkassenprämien. Das ist eine enorme Belastung für immer mehr Haushalte. Es braucht deshalb neben dem vollständigen Teuerungsausgleich endlich auch eine substanzielle Reallohnerhöhung! Hier können die Unternehmen ansetzen. Denn viele haben bei der letzten Lohnrunde nicht einmal die Teuerung vollständig ausgeglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir feiern heute den 1. Mai, den Tag der Arbeit. Auch wenn es von Seiten der Arbeitgeberschaft immer wieder anders tönt: Die meisten von uns arbeiten gern. Aber damit man gerne arbeitet und motiviert im Beruf bleibt, braucht es gute Arbeitsbedingungen. In Zeiten des Arbeitskräftemangels heisst das auch: Nicht wir müssen diesen beseitigen, indem wir mehr und länger arbeiten und Abstriche bei den Arbeitsbedingungen machen. Vielmehr sind die Unternehmen und die Politik sind gefordert, das bisher ungenutzte Potenzial von inländischen Arbeitskräften endlich zu nutzen. Denn dass der Arbeitskräftemangel kommt, ist ja nicht erst seit gestern bekannt.
Ich rufe Arbeitgeberverband, Gewerbeverband, Unternehmen und Politik auf:
Auszubilden, sodass alle 25jähren einen Abschluss haben,
Weiterzubilden und umzuschulen und zwar auch über 50jährige, und entsprechende Programme auch zu finanzieren,
Behinderte Menschen anzustellen und einen inklusiven Arbeitsmarkt zu ermöglichen,
endlich für Gleichstellung zu sorgen, also mehr Teilzeitstellen zu schaffen und bezahlbare Kita-Plätze, damit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser möglich wird, für Frauen und für Männer,
und neben dem vollen Teuerungsausgleich auch endlich eine Reallohnerhöhung zu gewähren.
Das sind Massnahmen, die zu einer echten Entspannung auf dem Arbeitsmarkt führen.
Ich wünsche euch allen eine schöne 1. Maifeier!